Brief an Neville Chamberlain vom 23. September 1938

 

 

Zum besseren Verständnis wurde die historische Reihenfolge der folgenden Briefe beibehalten. Chamberlain schrieb zuerst, Hitler folgte mit einem Antwortbrief, auf den wiederum Chamberlain reagierte.

 

 

Z.Zt. Godesberg, Hotel Petersberg, den 23. September 1938.

Herr Reichskanzler!

 

Ich glaube, es würde zur Klärung der Lage und zur Beschleunigung unserer Besprechung beitragen, wenn ich Ihnen, bevor wir uns heute vormittag treffen, folgendes mitteile: Ich bin bereit, der Tschechischen Regierung Ihren Vorschlag bezüglich der abzutretenden Gebiete zu übermitteln, um ihr Gelegenheit zur Prüfung der vorgeschlagenen vorläufigen Grenzen zu geben. Soweit ich sehe, besteht keine Notwendigkeit, eine Volksabstimmung in dem Hauptteil dieses Gebietes abzuhaltend, d. h. in demjenigen, der (nach Statistiken, über die auf beiden Seiten Einverständnis zu bestehen scheint) vorwiegend sudetendeutsch ist. Ich habe jedoch keinen Zweifel, daß die Tschechische Regierung bereit sein würde, Ihren Vorschlag einer Volksabstimmung anzunehmen, um festzustellen, ob überhaupt und inwieweit die vorgeschlagene neue Grenze berichtigt werden müßte.

 

Die Schwierigkeit, die ich bei dem mir gestern nachmittag vorgelegten Plan sehe, ergibt sich aus dem Vorschlag, daß diese Gebiete alsbald von deutschen Truppen zu besetzen wären. Ich erkenne die Schwierigkeit an, eine längere Untersuchung unter den gegenwärtigen Umständen zu führen, und zweifellos würde der von Ihnen vorgeschlagene Plan, wenn er annehmbar wäre, zu einer sofortigen Entspannung führen. Aber ich glaube, Sie haben nicht gewürdigt, daß es für mich unmöglich ist, einen Plan vorzuschlagen, wenn ich nicht Grund zu der Annahmehabe, daß er von der öffentlichen Meinung in meinem Lande, in Frankreich und in der Welt im allgemeinen als ein Plan angesehen wird, der die bereits angenommenen Grundsätze in geordneter Form und ohne Gewaltandrohung durchführt.

 

Ich bin sicher, daß ein Versuch, durch deutsche Truppen sofort Gebiete zu besetzen, die grundsätzlich sofort und kurz darauf durch formelle Grenzziehung ein Teil des Reiches werden, als eine unnötige Machtdemonstrierung beurteilt werden würde.

 

Selbst wenn ich es für richtig hielte, der Tschechoslowakischen Regierung diesen Vorschlag zu übermitteln, bin ich doch überzeugt, daß ,diese ihn nicht als im Einklang mit dem Geist der Vereinbarung stehend betrachten würde, die wir und die Französische Regierung ihr dringend nahegelegt haben und die sie angenommen hat. Falls deutsche Truppen Ihrem Vorschlag gemäß in die Gebiete einmarschieren, würde der tschechischen Regierung zweifellos nichts anderes übrigbleiben, als ihren Streitkräften den Befehl zum Widerstand zu geben, und das wäre gleichbedeutend mit einer Zerstörung der Grundlage, über die Sie und ich uns vor einer Woche geeinigt hatten, nämlich einer in ruhiger Ordnung durchzuführenden Regelung dieser Frage im Gegensatz zu einer Gewaltregelung.

 

Da grundsätzlich darüber Einverständnis besteht, daß die sudetendeutschdeutsche Gebiete dem Reich angeschlossen werden sollen, besteht die Frage, die wir nun sofort zu lösen haben, darin, wie bis zur endgültigen Feststellung der Regelung der Gebietsabtretung die Ruhe und Ordnung aufrechterhalten werden können. Es muß doch sicher Alternativen gegenüber Ihrem Vorschlag geben, die nicht zu den von mir geschilderten Bedenken Anlaß geben würden. Ich könnte z. B. die Tschechische Regierung fragen, ob sie glaube, daß eine Vereinbarung getroffen werden könnte, nach der die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in gewissen näher zu bestimmenden sudetendeutschen Gebieten den Sudetendeutschen selbstanvertraut werden würde - durch die Aufstellung geeigneter Truppen oder durch Verwendung bereits bestehender, die möglicherweise ihre Funktionen unter Aufsicht neutraler Beobachter ausüben würden.

 

Wie Ihnen bekannt ist, habe ich gestern abend gemäß der mit Ihnen erzielten Vereinbarung der Tschechischen Regierung dringend nahegelegt, alles in ihres Macht Stehende zu tun, um die Ordnung in der Zwischenzeit aufrechtzuerhalten.

 

Die Tschechische Regierung kann natürlich ihre Streitkräfte nicht zurückziehen, noch kann von ihr erwartet werden, daß sie die Staatspolizei zurückzieht, solange sie mit einem gewaltsamen Einmarsch rechnen muß. Ich wäre jedoch bereit, sofort die Meinung der Tschechischen Regierung über den Alternativvorschlag, den ich vorstehend gemacht habe, festzustellen und, wenn der Plan sich als annehmbar erweist, würde ich ihr dringend nahelegen, ihre Streitkräfte und die Staatspolizei aus den Gebieten zurückzuziehen, in denen die Sudetendeutschen selbst in der Lage sind, die Ordnung aufrechtzuerhalten.

 

Die weiteren Maßnahmen, die zur vollständigen Gebietsübertragung getroffen, werden müssen, könnten in verhältnismäßig kurzer Frist ausgearbeitet werden.

 

Ich bin Ihr sehr ergebener

Neville Chamberlain


 

Z. Zt. Bad Godesberg, den 23. September 1938.

Euere Exzellenz!

 

Eine gründliche Überprüfung des mir von Euerer Exzellenz heute zugegangenen Briefes sowie die Notwendigkeit, die Lage eindeutig zu klären, veranlassen mich zu folgender Mitteilung:

 

Seit nunmehr bald zwei Jahrzehnten werden in der Tschecho-Slowakei neben verschiedenen anderen Nationalitäten auch Deutsche in der unwürdigsten Weise mißhandelt, gequält, wirtschaftlich vernichtet und vor allem an der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker auch für sich verhindert. Alle Versuche der Unterdrückten, ihr Los zu ändern, scheiterten an dem brutalen Vernichtungswillen der Tschechen. Sie waren im Besitz der staatlichen Machtmittel und zögerten nicht, diese rücksichtslos und barbarisch anzuwenden. England und Frankreich haben sich niemals um eine Änderung dieser Zustände bemüht.

 

Ich habe nun in meiner Reichstagsrede vom 22. Februar erklärt, daß das Deutsche Reich von sich aus nunmehr einer weiteren Unterdrückung dieser Deutschen ein Ende bereiten wird. Ich habe in einer weiteren Erklärung anläßlich des Reichsparteitagesdiesem Entschluß einen eindeutigen und unmißverständlichen Ausdruck verliehen. Ich erkenne es dankbar an, daß sich nunmehr endlich nach zwanzig Jahren die Kgl. Britische Regierung, vertreten durch Euere Exzellenz, entschloß, auch ihrerseits Schritte zur Beendigung einer Situation zu unternehmen, die von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stundeuntragbarer wird. Denn wenn früher das Verhalten der Tschechischen Regierung brutal war, dann kann man es in den letzten Wochen und Tagen nur mehr als wahnsinnig bezeichnen.

 

Die Opfer dieses Wahnsinns aber sind unzählige Deutsche. In wenigen Wochen ist die Zahl der vertriebenen Flüchtlinge auf über 120.000 gestiegen. Dieser Zustand ist, wie schon bemerkt, unerträglich und wird von mir jetzt beseitigt.

 

Euere Exzellenz versichern mir nun, daß der Grundsatz der Übereignung des sudetendeutschen Gebietes an das Reich an sich bereits akzeptiert sei. Ich darf Euerer Exzellenzhier leider entgegnen, daß die theoretische Anerkennung von Grundsätzen uns Deutschenauch früher schon ausgesprochen worden ist. Im Jahre 1918 wurde der Waffenstillstandabgeschlossen auf der Grundlage von 14 Erklärungen des Präsidenten Wilson, die im Grundsatz von allen anerkannt worden sind. Sie wurden aber in der Praxis dann in der schmachvollsten Weise gebrochen.

 

Was mich, Exzellenz, interessiert, ist nicht die Anerkennung des Grundsatzes, daß dieses Gebiet an Deutschland kommen soll, sondern ausschließlich die Realisierung dieses Grundsatzes, und zwar eine Realisierung, die ebensosehr in kürzester Frist das Leid der unglücklichen Opfer der tschechischen Tyrannei behebt, wie umgekehrt aber auch der Würde einer Großmacht entspricht. Ich darf Euerer Exzellenz noch betonen, daß diese Sudetendeutschen nicht durch eine gnädige oder gütige Sympathie anderer Völker zum Deutschen Reich zurückkehren, sondern auf Grund des im Selbstbestimmungsrechte der Völker verankerten eigenen Willens und des unerschütterlichen Entschlusses des DeutschenReiches, diesen Willen zu vollziehen. Es ist aber für eine Nation eine unwürdige Zumutung, eine solche Wiedervereinigung an Bedingungen verknüpft zu sehen, die weder vertraglich vorhanden noch angesichts der kostbaren Stunden zweckmäßig sind.

 

Ich habe mit den besten Absichten, und um dem tschechischen Volk keinen gerechten Anlaß zur Klage zu geben, für den Fall einer friedlichen Lösung als kommende Grenze jene Volkstumsgrenze vorgeschlagen, die meiner Überzeugung nach einen billigen Ausgleich zwischen den beiden Volksgruppen, auch unter Berücksichtigung der dann noch vorhandenen großen Sprachinseln, darstellt.

 

Ich bin darüber hinaus aber bereit, im ganzen Gebiet Abstimmungen vornehmen zu lassen, durch die noch nachträgliche Korrekturen stattfinden können, um - so weit es irgend möglich ist - dem wirklichen Willen der davon Betroffenen zu entsprechen.

 

Ich habe mich verpflichtet, diese Korrekturen schon im vornherein anzuerkennen. Ich habe mich weiter bereit erklärt, diese Abstimmung unter der Kontrolle entweder internationaler Kommissionen oder einer gemischt deutsch-tschechischen Kommissionstattfinden zu lassen.

 

Ich bin endlich bereit, für die Tage der Abstimmung aus den am meisten strittigen Grenzbezirken unter der Voraussetzung des gleichen Verhaltens der Tschechen unsere Truppen zurückzuziehen.

 

Ich bin aber nicht bereit, ein auf Grund des Willens der Bevölkerung und der von den Tschechen selbst erfolgten Anerkennung zu Deutschland zu rechnendes Gebiet ohne den Schutz des Reiches zu lassen. Es gibt hier keine internationale Macht oder Vereinbarung, die das Recht hätte, sich vor das deutsche Recht zu stellen.

 

Der Gedanke, den Sudetendeutschen allein die Aufrechterhaltung der Ordnung anvertrauen zu können, ist infolge der seit Jahrzehnten erfolgten und in der letzten Zeit besonders beschleunigten Verhinderung jeder politischen Selbstorganisation praktisch unmöglich.

 

Sowohl im Interesse der gequälten, weil wehrlosen Bevölkerung, als auch mit Rücksicht auf die Pflichten und das Ansehen des Reiches ist es uns unmöglich, von der Gewährung des sofortigen Schutzes für dieses Gebiet absehen zu können.

 

Euere Exzellenz versichern mir, daß es Ihnen nun unmöglich ist, einen solchen PlanIhrer eigenen Regierung vorzuschlagen. Ich darf Ihnen umgekehrt versichern, daß es mir unmöglich ist, etwas anderes vor dem deutschen Volke zu vertreten. Denn für England handelt es sich dabei höchstens um politische Imponderabilien, für Deutschland aber handelt es sich dabei um das primitive Recht, die Sicherheit von mehr als 3 Millionen Menschen und um die nationale Ehre eines großen Volkes.

 

Die Bemerkung Euerer Exzellenz, daß es der tschecho-slowakischen Regierung nichtmöglich sei, ihre Streitkräfte zurückzuziehen, solange sie mit einer gewaltsamen Invasion rechnen muß, ist mir nicht verständlich. Denn durch diese Lösung sollen ja die Gründe für jede gewaltsame Aktion beseitigt werden.

 

Ich darf im übrigen Euerer Exzellenz nicht verschweigen, daß ich von dem starken Mißtrauen beseelt bin, daß auch die Annahme des Grundsatzes der Zugehörigkeit Sudetendeutschlands zum Reich von der Tschechischen Regierung nur ausgesprochen wurde in der Hoffnung, dadurch Zeit zu gewinnen, um so oder so wieder eine Wende zuungunsten dieses Grundsatzes herbeiführen zu können. Denn wenn es mit dem Grundsatz, daß diese Gebiete zu Deutschland gehören sollen, ehrlich gemeint ist, besteht kein Grund, die praktische Verwirklichung dieses Grundsatzes hinauszuschieben. Die langjährige Kenntnis der tschechischen Praktik in solchen Dingen zwingt mich, so lange an die Unaufrichtigkeit tschechischer Zusagen zu glauben, als sie nicht durch den praktischen Beweis erhärtet sind. Das Deutsche Reich aber ist entschlossen, diesen nunmehr seit Jahrzehnten andauernden Versuchen, Rechtsansprüche unterdrückter Völker dilatorisch abzutun, nunmehr so oder so ein Ende zu bereiten.

 

Im übrigen trifft das gleiche Verhalten auch die anderen Nationalitäten in diesem Staat. Auch sie sind das Opfer jahrzehntelanger Unterdrückung und Vergewaltigung.

 

Auch an ihnen wurde bisher noch jede Zusage gebrochen. Und auch an ihnen wird versucht, durch dilatorische Behandlung ihrer Klagen oder Wünsche Zeit zu gewinnen, um sie dann später nur noch mehr unterdrücken zu können. Auch diesen Nationen wird - wenn sie zu ihrem Rechte kommen wollen - früher oder später nichts anderes übrigbleiben, als sich ihr Recht selbst zu holen.

 

Deutschland ist jedenfalls, wenn es - wie es jetzt den Anschein hat - für seine unterdrückten Volksgenossen in der Tschecho-Slowakei auf dem Verhandlungswege dem klaren Rechte nicht zum Durchbruch verhelfen kann, entschlossen, die dann allein übrigbleibenden Möglichkeiten auszuschöpfen.

 

Ihr sehr ergebener

Adolf Hitler


 

Z. Zt. Godesberg, Hotel Petersberg, den 23. September 1938.

 

Herr Reichskanzler,

 

Ich habe die Mitteilung Euerer Exzellenz als Antwort auf meinen Brief von heute morgen erhalten und von ihrem Inhalt Kenntnis genommen. In meiner Eigenschaft als Vermittler ist es augenscheinlich jetzt meine Pflicht - da Euere Exzellenz den gestern nacht eingenommenen Standpunkt vollkommen aufrechterhalten -, Ihre Vorschläge der Tschechoslowakischen Regierung zu unterbreiten.

 

Ich bitte daher Euere Exzellenz, die Freundlichkeit zu haben, mir ein Memorandum zu übermitteln, in dem diese Vorschläge auseinandergesetzt sind, sowie eine Karte, die das nach Maßgabe des Ergebnisses des vorgeschlagenen Volksentscheides zu übergebende Gebiet aufzeigt.

 

Sobald ich dieses Memorandum erhalten habe, werde ich es sofort nach Prag weiterleiten und die Tschecho-Slowakische Regierung auffordern, sobald wie möglich darauf zu antworten.

 

In der Zwischenzeit, bis ich die Antwort der Tschechoslowakischen Regierung erhalten kann, wäre ich Euerer Exzellenz für eine Versicherung dankbar, daß Sie auch weiterhin das Übereinkommen einhalten, das wir bei unserer Zusammenkunft vom 14. September und wiederum gestern nacht getroffen haben, nämlich keine Handlung, insbesondere im Sudetengebiet, durch die Streitkräfte des Reiches unternehmen zu lassen, um nicht weitere noch mögliche Vermittlungen zu präjudizieren.

 

Da die Annahme oder die Ablehnung des Vorschlages Euerer Exzellenz jetzt Sache der Tschechoslowakischen Regierung ist, glaube ich, hier nicht mehr von Nutzen sein zu können, während es auf der anderen Seite notwendig geworden ist, daß ich über die gegenwärtige Situation sofort meinen Kollegen und der Französischen Regierung Bericht erstatte. Ich habe daher die Absicht, nach Englandzurückzukehren.

 

Ich bin Ihr sehr ergebener

Neville Chamberlain