Weisung zum „Fall Weiß“

 

3. April 1939

 

I. Die gegenwärtige Haltung Polens erfordert es, über die bearbeitete Grenzsicherung Ost hinaus die militärischen Vorbereitungen zu treffen, um nötigenfalls jede Bedrohung von dieser Seite für alle Zukunft auszuschließen.

 

1.) Politische Voraussetzungen und Zielsetzung:

 

Das deutsche Verhältnis zu Polen bleibt weiterhin von dem Grundsatz bestimmt, Störungen zu vermeiden. Sollte Polen seine bisher auf dem gleichen Grundsatz beruhende Politik gegenüber Deutschland umstellen und eine das Reich bedrohende Haltung einnehmen, so kann eine endgültige Abrechnung erforderlich werden. Das Ziel ist dann, die polnische Wehrkraft zu zerschlagen und eine den Bedürfnissen der Landesverteidigung entsprechende Lage im Osten zu schaffen. Der Freistaat Danzig wird spätestens mit Beginn des Konfliktes als deutsches Reichsgebiet erklärt. Die politische Führung sieht es als ihre Aufgabe an, Polen in diesem Falle womöglich zu isolieren, d. h. den Krieg auf Polen zu beschränken. Eine zunehmend krisenhafte innere Entwicklung Frankreichs und eine daraus folgernde Zurückhaltung Englands könnten eine derartige Lage in nicht zu ferner Zeit entstehen lassen. Ein Eingreifen Rußlands, soweit dieses dazu fähig sein sollte, wird Polen aller Voraussicht nach nichts nützen, da es seine Vernichtung durch den Bolschewismus bedeuten müßte. Die Haltung der Randstaaten wird allein von den militärischen Erfordernissen Deutschlands bestimmt werden. Auf deutscher Seite kann mit Ungarn als Bundesgenossen nicht ohne weiteres gerechnet werden. Die Haltung Italiens ist durch die Achse Berlin-Rom bestimmt.

 

2.) Militärische Folgerungen:

 

Die großen Ziele im Aufbau der deutschen Wehrmacht bleiben weiterhin durch die Gegnerschaft der westlichen Demokratien bestimmt. Der Fall „Weiß“ bildet lediglich eine vorsorgliche Ergänzung der Vorbereitungen, ist aber keineswegs als die Vorbedingung einer militärischen Auseinandersetzung mit den Westgegnern anzusehen. Die Isolierung Polens wird umso eher auch über den Kriegsausbruch hinaus erhalten bleiben, je mehr es gelingt, den Krieg mit überraschenden, starken Schlägen zu eröffnen und zu schnellen Erfolgen zu führen. Die Gesamtlage wird es aber in jedem Falle erfordern, daß auch Vorkehrungen zum Schutz der Westgrenze und der Nordseeküste des Reiches und des Luftraumes über ihnen getroffen werden. Gegen die Randstaaten, insbesondere gegen Litauen, sind Sicherungsmaßnahmen für den Fall eines polnischen Durchmarsches zu treffen.

 

3.) Aufgaben der Wehrmacht:

 

Die Aufgabe der Wehrmacht ist es, die polnische Wehrmacht zu vernichten. Hierzu ist ein überraschender Angriffsbeginn anzustreben und vorzubereiten. Die getarnte oder offene allgemeine Mobilmachung wird erst am Angriffsvortage zu dem spätest möglichen Termin befohlen werden. Über die für die Grenzsicherung West vorgesehenen Kräfte ist zunächst nicht anderweitig zu verfügen. Die übrigen Grenzen sind nur zu beobachten, gegen Litauen ist Zu sichern.

 

4.) Aufträge für die Wehrmachtteile.

 

a) Heer.

 

Operationsziel im Osten ist die Vernichtung des polnischen Heeres. Hierfür kann auf dem Südflügel slowakisches Gebiet betreten werden. Auf dem Nordflügel ist schnell die Verbindung zwischen Pommern und Ostpreußen herzustellen. Die Vorbereitungen für den Beginn der Operationen sind so zu treffen, daß auch - ohne den planmäßigen Aufmarsch mobilgemachte Verbände abzuwarten - mit zunächst verfügbaren Teilen angetreten werden kann. Eine getarnte Bereitstellung dieser Teile unmittelbar vor dem Angriffstag kann vorgesehen werden. Die Entscheidung hierzu behalte ich mir vor. Ob die für die „Grenzsicherung West“ vorgesehenen Kräfte in vollem Umfang dorthin aufmarschieren oder zum Teil für andere Verwendung frei werden, wird von der politischen Lage abhängen.

 

b) Kriegsmarine.

 

In der Ostsee fallen der Kriegsmarine folgende Aufgaben zu:

 

1.) Vernichtung bzw. Ausschaltung der polnischen Seestreitkräfte.

 

2.) Abriegelung der nach den polnischen Seestützpunkten, insbesondere Gdingen, führenden Seewege. Der neutralen Schiffahrt in polnischen Häfen und in Danzig ist eine mit Beginn des Einbruches in Polen bekanntzugebende Auslauffrist zu setzen. Nach ihrem Ablauf werden der Kriegsmarine die Sperrmaßnahmen freigegeben. Die durch die Auslauffrist entstehenden Nachteile für die Seekriegführung müssen in Kauf genommen werden.

 

3.) Unterbindung des polnischen Seehandels.

 

4.) Sicherung des Seeweges Reich - Ostpreußen.

 

5.) Schutz der deutschen Seeverbindungen nach Schweden und den baltischen Staaten.

 

6.) Aufklärung und Sicherung, soweit möglich, in unauffälliger Form, gegen ein Eingreifen sowjetrussischer Seestreitkräfte aus dem Finnischen Meerbusen heraus. Zur Verteidigung der Küsten und des Küstenvorfeldes der Nordsee sind entsprechende Kräfte der Kriegsmarine vorzusehen. In der südlichen Nordsee und im Skagerrak sind die Maßnahmen zu treffen, die zur vorsorglichen Sicherung gegen ein überraschendes Eingreifen der Westmächte in den Konflikt geboten erscheinen. Sie haben sich auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Ihre Unauffälligkeit muß gewährleistet sein. Es kommt hierbei entscheidend darauf an, jegliche Handlungen zu vermeiden, die die politische Haltung der Westmächte verschärfen könnten.

 

c) Luftwaffe.

 

Die Luftwaffe ist, unter Belassung der notwendigen Kräfte im Westen, überfallartig gegen Polen einzusetzen. Für die Luftwaffe stehen, neben der Vernichtung der polnischen Luftwaffe in kürzester Frist, folgende Aufgaben im Vordergrund:

 

1) Störung der polnischen Mobilmachung und Verhinderung eines planmäßigen polnischen Heeresaufmarsches.

 

2) Unmittelbare Unterstützung des Heeres, vor allem der zuerst vorgehenden Teile, schon vom Überschreiten der Grenze an. Eine etwaige Überführung von fliegenden Verbänden nach Ostpreußen vor Beginn der Operation darf die Überraschung nicht gefährden. Das erste Überfliegen der Grenze ist zeitlich mit den Operationen des Heeres abzustimmen. Angriffe auf den Hafen Gdingen sind erst nach Ablauf der der neutralen Schiffahrt gestellten Auslauffrist (s. Ziffer 4b) freigegeben. Schwerpunkte der Luftverteidigung sind über Stettin, Berlin und dem oberschlesischen Industriegebiet zuzüglich von Mähr. Ostrau und Brünn zu bilden.“

 

Termin für die Vorarbeiten:

 

Nach der Weisung des Führers hat die Bearbeitung des Falles „Weiß“ so zu erfolgen, daß die Durchführung ab 1. 9. 1939 jederzeit möglich ist. Da auf Grund der jüngsten politischen Entwicklung jedoch nicht mit Sicherheit zu übersehen ist, ob die politische Führung nicht gezwungen sein wird, die Durchführung bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu fordern, ist größte Beschleunigung der Vorarbeiten notwendig. Die Weisungen und Befehle des Befehlshabers der Gruppe Ost sind mir daher bis zum 15.6. vorzulegen.

 

Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine

Raeder